
Tibet - seit Jahrzehnten ein magischer Begriff, ein Shangri-La, ein mythischer Ort im unwegsamen Himalaya, weit abgeschnitten von der modernen Welt. Am 1. Juli 2006 hat sich mit der Ankunft des ersten Zuges in Lhasa ein neues Kapitel der tibetischen Geschichte aufgetan. Die rund 1000 km lange Zugstrecke von Golmud nach Lhasa eröffnet einen neuen Zugang zum Dach der Welt, welcher Begeisterung aber auch Kritik ausgelöst hat. Die Zugstrecke ist die längste und höchste Hochland-Eisenbahn der Welt, 255 m höher als die Andenbahn.
Im Juli unternehme ich eine Reise in den Osten von Tibet und besuche Klosteranlagen, den heiligen Berg Amnye Machen und den auf 3000 m gelegenen Kokonor-See. So bin ich schon etwas akklimatisiert als ich den Zug nach Lhasa in Xining besteige und über Nacht nach Golmud fahre. Im Soft-Sleeper 4er Abteil lässt es sich gut schlafen. Die Schaffner sind trotz der Sprachbarriere sehr zuvorkommen und freundlich. Es gibt WC, saubere Waschbecken und Digitalkameras können an Steckdosen aufgeladen werden.
Nach Golmud beginnt die landschaftlich einmalige Strecke. Im Zug gibt es Soft-Sleeper mit 4 Personen im Abteil, Hard-Sleeper mit 6 Personen und Wagen mit Sitzplätzen. Total sind um die 800 Personen auf dem Zug. Die Geschwindigkeit beträgt zwischen 60 und 100 km/h. Die Soft-Sleeper Abteile sind bequem, aber die beste Aussicht bietet der Restaurantwagen. Auch ohne Chinesisch kann ich ein Frühstück bestellen. Es gibt eine Bar mit harten Drinks, wegen der Höhe ist der Konsum von Alkohol jedoch weniger empfohlen. Als wir 4000 m erreichen wird über Düsen immer wieder Sauerstoff in die Abteile gelassen. Lautsprecher warnen von der Höhenkrankheit und eine Atemmaske kann beim Zugbegleiter verlangt werden. Nur die wenigsten Passagiere machen davon Gebrauch, generell wird die Zugfahrt gut vertragen. Der Sauerstoff im Zug lindert das Höhenproblem, Anzeichen der Höhenkrankheit entwickeln sich vor allem über Nacht, also erst nach der Ankunft in Lhasa.
Die Fahrt im Speisewagen ist wirklich sensationell. Die landschaftlich einmalige Zugfahrt zieht an Bergen, Gletschern, Hochebenen und lang gezogene Seen vorbei. Tibetische Antilopen (Chiru), Wildesel, Yakherden und Nomadenzelte können beobachtet werden.
Leider hält der Zug unterwegs jeweils nur ganz kurz an, kaum Zeit um auszusteigen, schon ertönt der Pfiff zur Weiterfahrt. Der höchstgelegene Bahnhof der Welt befindet sich in Tangu La auf 5068 m Höhe.
Im Verlauf von diesem Jahr werden pro Tag 4000 Passagiere in Lhasa ankommen, es gibt Direktzüge ab Beijing, Xining, Chongqing, Lanzhou, Shanghai und Chengdu.
Der Bau der Zuglinie gilt als technisches Meisterwerk, den über 100‘000 Arbeiter musste Sauerstoff verabreicht werden. Die grösste technische Herausforderung bereitete der Bau von Brücken und Tunnels durch Permafrost. Eine Eisschicht über dem Permafrost schmilzt und gefriert jeden Tag von neuem. Um dieses zu unterbinden war eine neue Technik notwendig. Skeptiker meinen, dass die Zugstrecke keine 10 Jahre halten wird.
Für die Tibeter ist die der neue Zug eine bequeme Verbindung mit dem restlichen Teil von China. Statt einer mühsamen 3-tägigen Busfahrt, kann Lhasa in nur 24 Std. erreicht werden. Wegen der enormen Nachfrage sind Zugtickets jedoch sehr schwer zu bekommen. Reiseveranstalter haben noch keine Kontingente und müssen auf gute Kontakte zurückgreifen.
Für westliche Touristen ist immer noch ein spezielles Tibet-Permit notwendig und die Zugfahrt nach Lhasa kann nur im Zusammenhang einer Pauschalreise gebucht werden.
Die neue Zugstrecke wird vor allem chinesische Touristen aus der zahlungskräftigen Mittelschicht anziehen. Ein Massentourismus, der sich auf die bekannten Höhepunkte Tibets beschränkt: Potalapalast und den Jokhang zur Hauptreisezeit im Juli-August. Die Besucherzahl im Potalapalast ist auf 1800 Personen pro Tag begrenzt, bei einem Eintrittspreis von CHF 15 pro Person (tibetische Pilger zahlen 15 Rappen). Es ist geplant 500 Personen zusätzlich einzulassen und den Eintrittspreis zu verdreifachen. Es gibt Bedenken, dass der Potalapalast so viele Besucher nicht verkraften kann. Schon jetzt werden Besucher in nur einer Stunde durch den Potala-Palast gedrängt.
Trotz Massentoursimus, kann das ursprüngliche Tibet immer noch gefunden werden. Der tibetische Kulturraum ist riesengross, viele abgelegene Täler und Klosteranlagen werden kaum von Touristen besucht. Oft genügt ein kleiner Abstecher von der üblichen Touristenroute. Bei einem Besuch in Yerpa, einem meiner Lieblingsplätze, habe ich nur tibetische Pilger angetroffen, kein einziger westlicher oder chinesischer Tourist.
Der Tourismus in Tibet ist im Umbruch. Viele Hotels sind ausgebucht und Preise für Unterkunft und Transport steigen. Hotelketten wie Hyatt, Intercontinental und Banyan Tree strecken Ihre Fühler aus. Es ist auch ein Luxuszug für Touristen geplant, welcher pro Person und Nacht USD 1000 kosten soll. Es gibt bereits Pläne die Zugstrecke mit Grenzorten zu Indien und Nepal zu verbinden. Dieses Jahr hat erstmals die Grenze von China zu Indien im Bundesstaat Sikkim eröffnet, vorerst jedoch nur für Handel und noch nicht für Tourismus.
Die Frage ist, wie sehr die Tibeter von dieser Entwicklung profitieren können. Mit dem Zug werden viele Gastarbeiter aus China eintreffen, die oft über eine bessere Ausbildung als die Tibeter verfügen. Schon jetzt werden eine Mehrzahl der Geschäfte, Restaurants und Hotels in Lhasa von Chinesen geführt. Anderseits erhalten Tibeter die Möglichkeit von der Ausbildung ausserhalb Tibets zu profitieren und Güter können in Frachtzügen günstiger nach Tibet gelangen.
Ich verlasse Lhasa auf der neuen Strasse zum Flughafen. Es wurde eine neuer Tunnel gebaute, welcher die Transferzeit erheblich verkürzt. In einem modernen Airbus 330 nach Chengdu sitzen ein paar wenige westliche Touristen sonst alles Chinesen. Ich frage mich, wie wohl Tibet in 10 Jahren aussehen wird.
Reisebericht, Juli 2006 von Hans Wettstein, Insight Reisen.