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Ayurveda
16 Dezember 2016

Ummauerte Genesung - Ayurveda-Bericht vom Kalari Rasayana

Bericht von Richard Kägi NZZ am Sonntag, 16.12.16

Ein spannender Artikel in der NZZ am Sonntag zu einem Ayurveda-Aufenthalt im Kalari Rasayana, Kerala, Südindien:


Mit Vegi-Food und Öl-Massagen ist es nicht getan, eine Ayurveda-Kur stellt mehr Ansprüche an Körper und Geist - in der südindischen Klinik Kalari Rasayana erst recht, gilt sie doch als eine der strengsten.

Leise klickend schliesst sich das polierte Holztor hinter der Limousine, die mich in neunzig Minuten vom Flughafen in Trivandrum in die Ayurveda-Klinik Kalari Rasayana gebracht hat. Diese liegt paradiesisch an den Backwaters im südindischen Kerala. Doch mulmig ist mir schon zumute. Hier soll ich die nächsten 21 Tage eingeschlossen sein. So ähnlich muss es Henri Charrière als "Papillon" zumute gewesen sein bei seiner Deportation auf die Teufelsinsel. Ganz abwegig ist der Vergleich mit einer Besserungsanstalt nicht, weil diese Klinik als das strikteste aller Ayurveda-Resorts in Indien gilt. Während der drei Wochen Pancha Karma, laut ayurvedischer Heilkunst die körperliche und seelische Reinigung und Heilung meines durch den westlichen Lebensstil vergifteten Organismus, sollen die drei Doshas bzw. biologischen Energien (siehe Box Seite 16)in Einklang gebracht werden.

Klinik statt Resort

Beim Einchecken in der luftigen Lobby - es ist 30 Grad warm und schwül - fällt mir auf, dass ich als Patient bezeichnet werde, nicht als Gast. "Ein wichtiger Unterschied", erklärt später mein Arzt, Dr. Sankar."Wir besitzen den Status einer Ayurveda-Klinik, nicht bloss den eines Resorts." In einem solchen Resort in Sri Lanka erlebte ich vor Jahren erstmals den Segen dieser mehr als 4000 Jahre alten, indischen Heilkunst, in deren Zentrum vegetarische Ernährung sowie Massagen und Anwendungen mit Ölen, Kräutern und Heilpflanzen stehen. Wer nun an Pool-Plausch und Schönheitsbehandlungen denkt, sollte eher ein Ayurveda-Resort als eine Klinik ins Auge fassen.Hier ist ausser Yoga und Meditation jeden Tag jegliche Anstrengung zu unterlassen. Während des Shiro Dara, bei dem warmes Öl langsam über die Stirn gegossen wird, sollte man sogar auf Lesen verzichten.

In Sri Lanka war der medizinische Teil wohl ähnlich wie in Kerala, aber noch vor dem morgendlichen Yoga schmiss ich mich jeweils in die Brandung des warmen indischen Ozeans. Oder döste am Pool, joggt eins nächste Dorf, um den Fischmarkt zu bestaunen und grub am letzten Tag im Urwald eine gigantische Alocasia aus, deren Wurzel ich im Koffer heimschleppte. Dort gedeiht sie prächtig.Hier aber ist alles anders. Ausflüge sind tabu, es ist nicht erlaubt, auch nur einen Fuss ausserhalb die hohe Umgebungsmauer zusetzen. Draussen bleiben müssen hingegen Alkohol, Nikotin, Koffein und Teein sowie alle anderen Drogen, die mein Leben sonst angenehmer machen. Selbst die eigenen Kleider haben hier nichts zu suchen. Im Zimmer liegen einige Sets Blusen und Hosen aus weissem, leichtem Baumwollstoff bereit, die Judo-Anzügen ähneln.

Essen ohne Unterhaltung

Meine Umgebung reagierte überrascht, als sie von meinen Ayurveda-Plänen hörte. Ich bin nicht krank, trage keinen dicken Bauch mit mir herum und bin mental wie physisch gut beisammen. Zudem wird mein Level an Spiritualität von jedem Güterwaggon übertroffen. Doch vor einigen Jahren liess ich mich schon einmal auf das Abenteuer dieser Heilkunst ein,danach fühlte ich mich ein Jahr lang wie neugeboren.

Gleich nach Ankunft und Bezug der sehr geräumigen und auf eine minimalistische Art luxuriösen Studios steht die Arztkonsultation beim Doktor an. Er erkundigt sich nach meiner gesundheitlichen Geschichte, möchte auch jedes momentane Zipperlein kennen.Besonders wichtig sind ihm meine Angaben über Ernährung und Verdauung,stellt das Ayurveda doch diese Vorgänge ins Zentrum von Diagnose, Diäten und heilenden Anwendungen. Dann fühlt er noch den Puls, misst Blutdruck und Gewicht, begutachtet die Zunge.

In Begeisterungsstürme bricht er nicht aus, sieht mich aber auch sobald nicht auf dem Sterbebett. "Sie machen in Ihrer Ernährung zwar vieles richtig. Wenig Fleisch, viel Olivenöl und Gemüse, regelmässig Hülsenfrüchte. Auch das Verhältnis zwischen gekochtem und rohem Essen stimmt. Aber Sie essen zu falschen Zeiten und dann noch Unpassendes. Und zu viel Alkohol und Kaffee." Stimmt. Oft kein Frühstück, Lunch noch seltener. Hunger bekämpfe ich mit Wasser, Obst und Früchten, das hört der Doktor gerne. Aber abends richtig zuzuschlagen, oft zu spät und zu ausgiebig, das missfällt ihm. Kochen ist ein kontemplatives Vergnügen für mich, neben der beruflichen Sache. Da ist dann keine Eile angesagt, und oft wird es spätabends, bis ich mich endlich hinsetze. Dass dabei schon einige Gläser Wein die Kocherei kurzweiliger gestalteten, versteht sich. Und immer viel Salat dazu, den ich so liebe. Doch das ist kompletter Unsinn, da die Verdauung auf die Nacht hin noch zusätzlich mit Rohkost belastet wird.

Eine Ärztin kommt hinzu, die Ernährungsspezialistin, sie wird täglich mit meinem Doktor zusammen bestimmen, was der Koch für mich zubereiten darf. Am ersten Abend werden mir eine Suppe und ein leichtes Gemüsecurry serviert.Jeder Patient sitzt am eigenen Tischchen, wie Schulpulte sind sie in gebührenden Abständen aufgereiht. Reden, lesen und Gadgets sind verpönt, bewusst essen ist angesagt. Danach erkunde ich die weitläufige Anlage, wunderschön am Wasser gebaut. Kokospalmen und unzählige Heilpflanzen, Büsche und Bäume wachsen im Park, auf den Wegen flanieren Patienten in weissen Kutten. Die Szene erinnert mich an T. C. Boyles Buch "Willkommen in Wellwille" und seine lakonische Beschreibung des Sanatoriums von Cornflakes-König Dr. Kellogg. Bis zu dreissig Patienten kommen hierher aus aller Welt. Eine laute Schar Russen, Deutsche, Franzosen,Schweizer - alle suchen Entspannung und Gesundheit.

Tagwache ist um fünf Uhr morgens, geschlafen habe ich mässig, wie immer in fremden Betten. Der Yoga-Lehrer erwartet uns gut gelaunt in einem offenen Pavillon, es ist zappenduster, der Urwald schläft noch, nur vom nahen Tempel erschallen Musik und einlullender Singsang. Etwa 15 Frühaufsteher haben sich eingefunden, mehrheitlich Frauen, die auch insgesamt die Mehrzahl der Patienten stellen.Yoga war für mich immer schon eher Qual als Wahl. Partnerinnen schleppten mich in die Studios, lange hielt ich nie durch. Als Ausdauersportler schwitze ich rasch, literweise rann mir jeweils das Wasser aus den Poren und brachte die feinen Damen an den Rand der Verzweiflung. Ich muss mich draussen bewegen; zum Glück faltet man sich unter freiem Himmel zusammen, zudem morgens um halb sechs. Die Russin neben mir spreizt sich schon beim Aufwärmen in den Spagat und senkt den Kopf bis zur Matte hinab. Verzerrt lächelnd spitzt sie ihre Schlauchbootlippen, während mein Versuch, mich kapriziös zusammenzufalten, grandios misslingt. Die Streberin kann es nicht lassen, zwischen den Übungen des Yogis noch ihre eigenen vorzuturnen und jedes Mal triumphierend in die Runde zu grinsen. Angeberin! Meine Freundin wird sie nicht. Ich sage nichts, ignoriere die Schmerzen und versuche, meine Atmung zu kontrollieren. Die Vorstellung, Ludmilla müsste mit mir dreimal über den Gotthardpass pedalen, besänftigt mich. Oooommhhh.

Der frühe Morgen ist hier die schönste Zeit. Rasch siegt die Dämmerung über die Nacht, und der Dschungel erwacht. Die aufgehende Sonne zaubert ein magisches Licht über Wald und Wasser, die Nacht ist Geschichte. Was sie erzählt, steigt als feiner Dunst über das Blätterdach des Waldes. Um sieben läutet die Glocke für das Frühstück, sie kündigt auch Lunch und Dinner an. Der Tagesablauf ist streng strukturiert. Aufstehen,  Yoga, Frühstück, Ruhen, Arztkonsultation, Massage, Ruhen, Fruchtsaft, Meditation mit Yoga Nidra, Lunch und Ruhen folgen wiedereine Massage, Früchte, Ruhen, Dinner, Schlafen. Vor mir liegt ein Schälchen mit gedämpften Apfelschnitzen. Yoga macht hungrig, und ich verlange viermal Nachschlag, der mir auch freundlichst gewährt wird. Fast von allen Speisen darf man so viel essen, wie man möchte; die Ausnahmen bestimmt die Ärztin. Denn Ayurveda ist mitnichten eine Hungerkur, trotzdem nehme ich in den ersten zehn Tagen sieben Kilo ab.

Grosse, unerschütterliche Ruhe

Tag eins bis drei sind dem Angewöhnen von Seele und Verdauung gewidmet. Ich freue mich auf die erste Massage. Mein Therapeut Ajith heisst mich, den Dress abzulegen, und bindet mir mit dünnenSchnüren einen Streifen Baumwolltuchum die Lenden, ganz nackt geht nicht. Ich betrachte mich im Spiegel, den vorsintflutlichen G-String untenherum festgezurrt. Na ja. Zu dritt reiben mich die Therapeuten kräftig mit strengriechendem, warmem Öl ein. Ajith erzählt mir, wie begehrt die Arbeit sei.

Das Rasayana, wie auch die Schwesterklinik Kalari Kovilakom, gelten als das "El Bulli" der Ayurveda-Jünger, entsprechend angesehen ist ihre Berufung. Die Behandlungen gliedern sich in Ganzkörpermassagen, Wärmetherapien, Ölbehandlungen des Kopfes, Abführungen und Darmspülungen, Reinigung der Gehörgänge und des Nasen-Rachenraumes mit flüssigem Ghee, das ist geklärte und gewürzte Butter. Als wichtigste Therapie wird Ghee über mehrere Tage in zunehmender Menge zum Trinken verabreicht. Was mich jeden Tag Überwindung bis zum Erbrechen kostet - wie auch die morgens und abends einzunehmenden Kräutersude und Pillen. Jeden zweiten Abend ist Unterhaltung angesagt. Das können traditionelle Tänze sein oder ein Vortrag über die Tempel der Gegend.

Heute zeigt uns der Koch, wie er Gemüsesuppe und Linsencurry macht. Auf einem langen Tisch sind Gas-Rechauds und die ganze Mise-en-Place aufgebaut. Als es in den Pfannen zu brutzeln beginnt, hechten die Russinnen an den Tisch und hängen ihre gigantischen Smartphones in die Töpfe. "Wir sehen nichts mehr", sage ich streng. Widerwillig ziehen sich die Damen zurück. Die Tage gehen dahin, definiert durch ihre klare Einteilung. Dazu schaffe ich mir meine eigenen Rituale. Beim Sonnenuntergang auf das Wasser schauen, die Raben beim Bau ihrer Nester beobachten, die Fischer bestaunen, wie sie mitlangen Stangen ihre Boote über den flachen See stochern. Vom Ufer ausbetrachte ich grosse Quallen, die lautlos vorwärts pulsieren. Sie wollen mir offenbar zeigen, dass jedes Ziel auch ohne Hektik gut erreicht werden kann. Ich tauche je länger, je tiefer in eine grosse, unerschütterliche Ruhe ein, lese viel und schlafe weniger als sonst schon, damir fast jegliche körperliche Betätigung fehlt. Ich geniesse die Massagen, das warme Öl auf meinem Körper, die heissen Kräuterkissen, mit denen mich die Therapeuten niederstempeln -so dass ich mich fühle wie ein Brief, der in der Frankiermaschine festklemmt.

Das Essen schmeckt gut und ist abwechslungsreich, an Kaffee und Wein verschwende ich seit dem dritten Tag keine Gedanken mehr. Umso mehr in Erinnerung bleiben wird mir das äusserst herzlich agierende Personal. Beim Austrittsgespräch lobt mich Dr. Sankar für meinen Duchhaltewillen, meine Loyalität und den gesunden Appetit. Er erzählt von Patienten aus Italien und Frankreich, die samt Mokka-Kanne, Kochgeschirr, Pasta und Foie gras im Koffer angereist seien. Oder sich nachts aus dem Areal geschlichen hätten, in die nächste Strassenküche. Ich erhalte Medikamente für die folgenden sechs Monate, eine ausführliche Liste, was ich im Tagesverlauf essen sollte und was nicht, sowie jede Menge Ratschläge, was meinen Alkohol- und Kaffeekonsum betrifft. Sie gefallen mir nicht alle. Und natürlich die Bitte, nächstes Jahr wieder zu kommen. Was ich mir gerne hinter die Ghee-gespülten Ohren schreibe.
 

Der Autor ist Food-Scout bei Globus. Auf der Suche nach dem wahrhaft Guten reist er für die Delicatessa um die ganze Welt globus.ch/de/delicatessa/foodscout

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